Navigation auf uzh.ch

Suche

Soziologisches Institut Prof. Dr. Katja Rost

Antwort auf den Offenen Brief zur Studie „Leaky pipeline in der Wissenschaft“ der AVETH und anderer ETH-naher-/interner Organisationen

Der Offene Brief zur Studie „Leaky pipeline in der Wissenschaft“ der AVETH und anderer ETH-naher-/interner Organisationen enthält zahlreiche Vorwürfe, die von grosser Ahnungslosigkeit sowohl empirischer Sozialforschung als auch von Wissenschaftsfreiheit zeugen. Ausserdem legt der Brief den Verdacht nahe, dass die VerfasserInnen - wie die meisten unserer KritikerInnen -  nur Darstellungen in der Presse oder in den sozialen Medien gelesen haben und nicht die Originalstudie:

Die VerfasserInnen sind "mit den zentralen Schlussfolgerungen und Empfehlungen" nicht einverstanden, weil sie mit "ihren persönlichen Erfahrungen"  (!)  und der umfangreichen Fachliteratur nicht übereinstimme. Bezüglich der Fachliteratur werden  jedoch selektive und nicht dem neuesten Stand wiedergebende Studien genannt.  Es wird keine der von uns zitierten umfangreichen  aktuellen Quellen erwähnt.  Insbesondere  wird die Literatur nicht zur Kenntnis genommen, welche aufzeigt, dass heute in wohlhabenden Ländern  sich das „gender equality paradoxon“ bemerkbar macht, welches zur Ausbreitung eines neuen weiblichen Rollenmodells des "equal but different" führt. Dies ist ein  wichtiger Erklärungsfaktor dafür, dass die Leaky Pipeline so persistent ist (Siehe etwa Borra and Sevilla (2019); Breda et al. (2020); Combet (2023); Doepke and Zilibotti (2017);  Eagly et al. (2020); Falk and Hermle (2018), Goldin (2021); Hizli, Mösching und Osterloh (2022).)

Sie werfen  uns suggestive Fragen vor, welche gängige Geschlechter-Stereotypen reproduzieren würden. Die  Kennzeichnung von z.B. weiblichen/ männlichen Stereotypen - denen man auf einer Likert-Skala zustimmen oder sie ablehnen kann -   ist gängige und validierte Praxis in der empirischen Sozialforschung, ohne die keinerlei Meinungsforschung möglich wäre.

Wir würden "im Allgemeinen nicht (mehr) akzeptierte Erklärungen in Bezug auf auf Geschlecht und Geschlechternormen/-vorurteilen" geben.  Offensichtlich darf man nur erklären, was mit dem Mainstream übereinstimmt. Das geht massiv gegen die Freiheit der Forschung.

Der Umfang der Studie sei begrenzt und vernachlässige andere wichtige Faktoren. Die Studie umfasst 83 Seiten und beruht auf einem Fragebogen mit 100 Fragen. Auch in der Forschung muss es Arbeitsteilung bei den zu beantwortenden Fragestellungen geben. Unsere Fragestellung betrifft die Leaky Pipeline an der ETH und der UZH,  möglichen Erklärungsansätzen und sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten der Universitäten zur  Reduzierung der Leaky Pipeline. Wir sahen es nicht als unsere Aufgabe an, allgemein-gesellschaftliche Fragen der Gleichstellung zu behandeln, z.B. die Rollenaufteilung innerhalb von Paarbeziehungen und Familien. Das haben wir an anderer Stelle ausführlich getan (Z.B. Berger, Osterloh and Rost (2020)).

Margit Osterloh  hätte abwertende und unbelegte Bemerkungen gemacht, welche suggerierte dass, dass gebildete Frauen nicht in der Lage seien, selbst zu denken….. Der Vorwurf bezieht sich auf die Aussage, dass Frauen oft eingeredet werde, sie würden an der Universität diskriminiert. Diese Aussage hätte man anders formulieren können: Frauen fühlen sich an der Universität gemäss unseren Befragungsergebnissen  nicht diskriminiert, wenn man sie neutral ohne Erwähnung des Geschlechtes   befragt. Sobald man aber das Geschlecht salient macht, fühlen sie  sich um so mehr benachteiligt, desto häufiger sie ein frauendominiertes Fach gewählt haben. Interessant ist, dass sich Frauen und männerdominierten Fächern - entgegen der landläufigen Meinung - keineswegs wegen ihres Geschlechtes benachteiligt sehen.

Einige (wieviele?) Studierende hatten ein "Gefühl der Enttäuschung" weil unsere Ergebnisse das "Potential haben, existierende, gesellschaftliche Stereotype zu verstärken". Wissenschaftliche Befragungen und deren Ergebnisse sind nicht dazu da, gute Gefühle zu erwecken und irgendwelche Deutungen in eine bestimmte Richtung zu lenken oder diese zu vermeiden. Auch das würde die Forschungsfreiheit und dazu noch die Forschungsintegrität massiv einschränken.

Uns wird  pauschal  der Vorwurf  von "unbegründeten Vorschlägen" gemacht. Weder wird auf unsere Vorschläge und ihre Begründung eingegangen (Z.B. Frey, Osterloh and Rost (2022); Gërxhani  et al. (2021); Travers et al. (2021)),  noch wird erwähnt, dass die Methodik unserer Studie darin besteht, die  unterschiedlichen Leaky Pipelines zwischen männer- und frauendominierten Studiengängen zu vergleichen. Schon gar nicht werden alternative Hypothesen vorgeschlagen, wie man diese Unterschiede erklären könnte, um angemessene Massnahmen vorschlagen zu können.

Es sei inakzeptabel, dass wir die Studie einer Zeitung weitergegeben haben, ohne dass sie einem Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat.  Jedoch gelten in unterschiedlichen Disziplinen  unterschiedliche Normen für die Veröffentlichung von Studienergebnissen. So ist es z.B. in der Volkswirtschaftslehre durchaus üblich, Papiere nach Diskussionen auf Seminaren und Konferenzen und vor dem Review-Verfahren auf das Netz zu stellen sowie in Zeitungen vorzustellen. Die Papiere kursieren frei während des oft Jahre dauernden Review-Prozesses und werden mitunter häufiger zitiert als die schlussendliche Journal-Publikation. Auch unsere Studie  wurde auf vielen wissenschaftliche  Konferenzen und Seminaren -  z.T. nach  einer Vorauswahl im doppelt-blinden Verfahren - präsentiert und diskutiert. Auch wurden die Ergebnisse in mehreren Uni-Leitungs-Gremien der UZH vor der Veröffentlichung vorgestellt.  

Insgesamt stellt der offene Brief  der AVETH  et al. einen erheblichen Angriff auf die Freiheit und Integrität der Wissenschaft dar.  Gerne stellen wir uns wissenschaftlicher Kritik, wenn sie sachkundig ist und zwischen faktischen und normativen Aussagen zu unterscheiden weiss. Wir hoffen sehr, dass dies auf der Podiumsdiskussion am 15. Juni 2023 an der UZH möglich sein wird.


Literatur:
Berger, Joël, Margit Osterloh, and Katja Rost. 2020. "Focal random selection closes the gender gap in competitiveness." Science Advances 6 (47): eabb2142.
Borra, Cristina, and Almudena Sevilla. 2019. "Competition for university places and parental time investments: Evidence from the United Kingdom." Economic Inquiry 57 (3): 1460-1479.
Breda, Thomas, Elyès Jouini, Clotilde Napp, and Georgia Thebault. 2020. "Gender stereotypes can explain the gender-equality paradox." Proceedings of the National Academy of Sciences 117 (49): 31063-31069.
Combet, Benita. 2023. "Women’s aversion to majors that (seemingly) require systemizing skills causes gendered field of study choice." European Sociological Review: jcad021.
Doepke, Matthias, and Fabrizio Zilibotti. 2017. "Parenting with style: Altruism and paternalism in intergenerational preference transmission." Econometrica 85 (5): 1331-1371.
Eagly, Alice H, Christa Nater, David I Miller, Michèle Kaufmann, and Sabine Sczesny. 2020. "Gender stereotypes have changed: A cross-temporal meta-analysis of US public opinion polls from 1946 to 2018." American psychologist 75 (3): 301.
Falk, Armin, and Johannes Hermle. 2018. "Relationship of gender differences in preferences to economic development and gender equality." Science 362 (6412): eaas9899.
Frey, Bruno S, Margit Osterloh, and Katja Rost. 2022. "The rationality of qualified lotteries." European Management Review.
Gërxhani, Klarita, Jordi Brandts, and Arthur Schram. 2021. Competition and Gender Inequality: A Comprehensive Analysis of Effects and Mechanisms. BSE, Barcelona School of Economics.
Goldin, Claudia. 2021. Career and Family: Women’s Century-Long Journey toward Equity. Princeton University Press
Hizli, Louisa, Mösching, Annina und Osterloh, Margit (2022). Warum ist der Anteil von MINT-Absolventinnen in Marokko höher als bei uns? Ökonomenstimme 1/2022
Travers, Henry, James Walsh, Sonja Vogt, Tom Clements, and EJ Milner-Gulland. 2021. "Delivering behavioural change at scale: What conservation can learn from other fields." Biological Conservation 257: 109092.