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Soziologisches Institut Prof. Dr. Katja Rost

Schnipp, schnapp, Solidarität

Schnipp, schnapp, Solidarität – geht Unterstützung wirklich so leicht?

Um die Proteste in Iran zu unterstützen, schneiden sich prominente Frauen wie Juliette Binoche oder Penélope Cruz eine Haarsträhne ab. Sie füllen damit aber primär die Taschen von Instagram und Co.

Zu hören ist erst nur das Geräusch schneidender Scheren. Dann setzt langsam und auf Persisch gesungen das Partisanenlied «Bella Ciao» ein. Zu sehen sind ernste Gesichter, kämpferische Gesichter. Sie gehören Schauspielerinnen wie Marion Cotillard, Penélope Cruz oder dem Model Cara Delevingne.

Eine nach der anderen setzen die berühmten Frauen die Scheren an. Es fallen diesen Strähnen, Büschel, Spitzen und selten ganze Haarzöpfe zum Opfer.

Gestorben wegen einer Strähne

Das Filmchen, unter anderem auf der Social-Media-Plattform Instagram geteilt, soll weltweit auf die Freiheitskämpfe in Iran aufmerksam machen. Das Schicksal der 22-jährigen Mahsa Amini, unter deren Schleier einige verbotene Haarsträhnen hervorgetreten waren und die dafür mit ihrem Leben bezahlte, hat zu einer anhaltenden Protestwelle gegen Verbote, Sittenpolizei und das ganze iranische System geführt.

«Frauen, Leben, Freiheit» skandieren die Iranerinnen und zeigen sich mit offenem Haar auf der Strasse. Sie riskieren damit – Aminis Tod ist der Beweis – ihr Leben. Neben diesem Einsatz sehen die abgeschnittenen Büschelchen von Cotillard und Co. einigermassen mickrig aus. Dazu ihre bleiernen Mienen. Als würden sie sich höchstpersönlich vor die Sittenpolizei stellen, um die Protestierenden in Iran zu schützen. Doch ist das, was sie inszenieren, nicht bloss ein Stück Klick-Solidarität? Eine Möglichkeit, sich mit der gerechten Sache ins richtige Licht zu rücken?

Kraft und Aufmerksamkeit

«Aus einer so freien und sicheren Position heraus wie in Deutschland kann so eine Aktion immer auch wohlfeil wirken», sagte die deutsch-iranische Schauspielerin Melika Foroutan gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Sie gehört zu einer Gruppe deutscher Schauspielerinnen, die ihrerseits ein Scheren-Filmchen produziert haben. Mit der Frage «Wenn ihr euch ein paar Zentimeter eurer Haare abschneidet, was soll das jetzt den Menschen in Iran bringen?» hat sie gerechnet. Und für sich festgestellt, dass ihr Opfer so oder so niemals gleich gross sein kann wie das ihrer Landsleute auf den Strassen Irans. Aber ihr Zeichen der Solidarität werde von den Menschen dort gesehen – und gebe ihnen Kraft.

Ob die Menschen in Iran die Aktionen jedoch tatsächlich zahlreich sehen können, bleibt unklar. Das iranische Regime hat den Zugang zu Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Whatsapp landesweit gekappt.

Amplifikatoren und die Social-Media-Logik

Nutzen können die Haarsträhnen-Schauen primär dadurch, dass sie Aufmerksamkeit auf die Sache der Iranerinnen lenken. Und als Sprit für den Social-Media-Motor.

«Prominente Menschen sind Teil der Logik von sozialen Netzwerken. Wie diese wirken auch sie wie Amplifikatoren von Meinungen», sagt Daniel Kunzelmann. Er ist Kulturwissenschafter an der Universität Basel und forscht zu sozialen Netzwerken und politischem Protest. Amplifikatoren, also Verstärker, richten ein Schlaglicht auf die Sache, die sie unterstützen. «Wenn Bewegungen eine breite Medienöffentlichkeit wollen, müssen sie diese Personen für sich gewinnen. In der Logik der sozialen Netzwerke muss man sagen: Egal, ob die Leute an die Inhalte glauben oder nicht – wichtig ist, dass sie viel klicken.»

Protestbewegungen wiederum sind, wie Kunzelmann sagt, das Futter, das über die sozialen Netzwerke verteilt wird. Sie sorgen dafür, dass mehr Nutzer mehr Zeit auf den Plattformen verbringen, dort häufiger interagieren, mehr Beiträge anklicken und auch selbst teilen. Dadurch entsteht Reichweite, und diese macht eine Plattform für Werbekunden erst relevant. «So werden soziale Netzwerke immer auch zu Trittbrettfahrern, die Proteste monetarisieren», erklärt Kunzelmann.

Doch auch Protestbewegungen profitieren. «Soziale Netzwerke bedienen Emotionen, eine wichtige Voraussetzung für die Identifikation. Solche Gefühle und die daraus resultierende Unterstützung können durchaus authentisch sein», sagt Kunzelmann. Die Betroffenheit wiederum kann dazu führen, dass Menschen helfen wollen.

Eine Niedrigkostensituation

Die Hilfsbereitschaft ist aber auch darum gross, weil sie von Prominenten und Normalsterblichen leicht unter Beweis gestellt werden kann. «Soziale Netzwerke schaffen Niedrigkostensituationen», sagt Katja Rost, Professorin für Soziologie an der Universität Zürich. Das erst ermögliche die weitverbreiteten Bewegungen, wie wir sie heute beobachteten. «Durch die sozialen Netzwerke sind Protestbewegungen grösser geworden, aber auch harmloser», sagt Rost.

Man kann sich überall engagieren, denn die Beteiligung erfordert weder viel Zeit noch viel emotionales Engagement. Darum ist in vielen Fällen auch die Verbundenheit geringer: Diese Woche schneidet man sich solidarisch mit den Iranerinnen die Haare, in der nächsten wird bereits wieder ein anderes Anliegen unterstützt. Denn das sind sie ja alle: unterstützenswert.

Rost widerspricht auch der Devise, dass eine teilweise marginale Unterstützung wenigstens nicht schade, wenn sie nichts nützen sollte, Aufmerksamkeit sei ja immer noch Aufmerksamkeit. «Je mehr oberflächliche und nicht nachhaltige Unterstützung eine Bewegung bekommt, umso mehr sinkt deren Glaubwürdigkeit.» Das verändere die Einstellung gegenüber einer Protestbewegung. «Etwa, indem sie tendenziell als nerviger, negativer und schlimmstenfalls gar weniger wichtig wahrgenommen wird», so Rost.

Alle nutzen den Spill-over-Effekt

Um wirklich etwas Gutes zu bewirken, sollten sich besonders prominente Personen gut überlegen, wo und wie sie sich engagieren. «Aufmerksamkeit auf ein Anliegen lenken ist gut. Dann muss das aber mit klarem Fokus und über lange Zeit geschehen, das erst verleiht Glaubwürdigkeit», sagt die Soziologin Rost.

Allerdings unterstützen viele Prominente mehrere Bewegungen. Ein Grund dafür: der Spill-over-Effekt. «Damit färbt ein Teil der Legitimität, die die unterstützte Sache vorweist, auf die Unterstützer ab», so Rost. Wer sich für die Iranerinnen eine Haarsträhne abschneidet, platziert sich auf der guten Seite, zeigt, dass sie oder er sich für die richtige Sache einsetzt.

Dass besonders Prominente gesellschaftliche Anliegen auch für das Polieren des eigenen Images nutzen, ist allerdings kein Phänomen allein der sozialen Netzwerke. «Das Gleiche passiert bei der Stiftungsarbeit seit langem. Auch da spenden bekannte Menschen Geld, engagieren sich und bessern damit ihr eigenes Image auf», sagt Kunzelmann.

 

Der Brief der Schweizerinnen

Für einen anderen Weg haben sich Schweizer Kulturschaffende entschieden: einen offenen Brief an die Landesregierung. Darin fordern sie unter anderem die Einbestellung des iranischen Botschafters in Bern oder die Einfrierung aller Gelder auf Schweizer Bankkonten des islamischen Regimes, der Revolutionsgarde und der Basij, einer inoffiziellen Hilfspolizei, rekrutiert aus Freiwilligen. «Diese Massnahmen sind sofort an die Hand zu nehmen», schreiben Künstlerinnen wie Pipilotti Rist, Filmschaffende wie Samir oder Schriftstellerinnen wie Sibylle Berg.

Zudem haben die Unterzeichnerinnen des Briefes ein Spendenkonto eingerichtet. Denn: Ein volles Konto nützt den Frauen in Iran mehr als ein Büschel Haare.